Autonome Region Kurdistan Irak:
vom Demokratie-Labor zum Mini-Polizeistaat
Von Ferdinand Hennerbichler
11. August 2011
Die autonome Region Kurdistan im Nordirak ist auf dem Weg von einem Vorkämpfer für Demokratie und Menschenrechte in Nahost in einen gewalttätigen, autokratischen und korrupten Mini-Polizeistaat mit Zügen des gestürzten Regimes des 2006 hingerichteten Despoten Saddam Hussein.
„Game over, Barzani“, „Good by Talabani“
Das politische Erdbeben 2011 in der arabischen Welt hat im irakischen Kurdistan erstmals seit den freien Wahlen 1992 zu einem neuen „politischen Frühling“ geführt. Der Ausgang der anhaltenden Protest-Kundgebungen für Demokratie und Menschenrechte ist ungewiss. Mit Slogans wie „Game over, Barzani“, „Good by Talabani“ protestieren seit Februar an „Tagen des Zorns“ Tausende, mitunter bis zu 7.000, vor allem Jugendliche, Professoren, Anwälte, Journalisten und Oppositionelle gegen Autokratie, Machtproporz, Korruption (auf Kurdisch „Wasta“), soziale Ungerechtigkeit und Misswirtschaft der beiden herrschenden Familien-Clans: der nationalkonservativen, stammesorientierten Kurdischen Demokratischen Partei KDP des regionalen Kurdistan-Präsidenten Masoud Barzani, 65 im August, und der linksgerichteten Patriotischen Union PUK des amtierenden irakischen Staats-Präsidenten Jalal Talabani, 78. Beide Macht-Clans, KDP (gegr. 1946) und PUK (seit 1975), haben das irakische Kurdistan seit Ende der 1970er Jahre je etwa zur Hälfte untereinander aufgeteilt und bis heute de facto in Nord-Süd Einflussgebiete aufgespalten. Die Barzani-KDP dominiert dabei den Norden mit der Hauptstadt der autonomen Region, Arbil (Hawler), die Talabani-PUK den Süden mit der Metropole Sulaimaniya.
Zweiter politischer Frühling in Kurdistan niedergeprügelt
In Sulaimaniya im Süden entzündeten sich Mitte Februar schwere interne kurdische Proteste, die seither anhalten. Auslöser waren diesmal Solidaritäts-Demonstrationen für die Aufstände in Tunesien und Ägypten. Vordem war es in Sulamainiya aber bereits 2001, 2006 und 2007 mehrfach zu Demonstrationen gekommen, die blutig niedergeschlagen wurden und Tote forderten. Auch in anderen Städten wie Halabdscha flackerten immer wieder Anti-Regime-Proteste auf. Diese eskalierten seit vergangenen Februar zu massiven Protesten gegen Zustände im irakischen Kurdistan: gegen das zweigeteilte Machtmonopol von Barzani-KDP und Talabani-PUK, die Nord-Süd-Spaltung der Region, Pseudo-Demokratie, allgegenwärtige Korruption, Freunderlwirtschaft, Zensur, für eine freie Presse, Frauenrechte, Job-Chancen, eine Zukunft für die Jugend, unabhängige Justiz und einen funktionierenden Rechtsstaat. Als sich die Demonstranten von bewaffneten Wächtern und Funktionären eines Büros der Barzani-KDP in Sulaimaniya provoziert sahen und gegen sie Steine zu werfen begannen, kam es zu einem ersten Blutbad. Die KDP-Wächter feuerten im Zentrum der Talabani-PUK mit scharfer Munition auf demonstrierende Jugendliche. Ein 14-jähriger Student wurde erschossen, mehr als 60 Demonstranten zum Teil schwer verletzt. Schwer bewaffnete Sicherheitskräfte rückten an. Schwarz vermummte Bewaffnete knüppelten protestierende Jugendliche nieder und schlugen sie spitalreif. Tage später starben zwei weitere Studenten im Kugelhagel von Sicherheitskräften, ein 17- und ein 27-Jähriger. Ein Zentrum der Proteste, der „Sara Square” in Sulaimaniya, wurde in Freiheits-Platz umbenannt. Ähnlich wie in Kairo begannen die Demonstranten ein Ad Hoc Komitee am Platz einzurichten. News von den blutigen Unruhen verbreiteten sich im Lauffeuer in ganz irakisch Kurdistan. Auf dem Internet wurden innerhalb von Stunden Infos und Handy-Filme von den blutigen Aufständen verbreitet. Etwa 150 km nordwestlich von Sulaimaniya wurde die Provinz-Hauptstadt Arbil (Hawler) von bewaffneten Kräften der Barzani-KDP hermetisch abgeriegelt und laut Augenzeugen wie in ein Militärlager verwandelt. Proteste und Kundgebungen wurden verboten, von vornherein schon weitgehend im Keim erstickt und Checkpoints an den Ausfahrtsstraßen vor allem nach Sulaimaniya postiert. Potentielle Protestanten wurden systematisch eingeschüchtert. Anhänger des KDP-Regimes zündeten in Arbil, Shaqlawa, Soran und DuhokBüros oppositioneller Gruppen an. Trotz einer zunehmend rigorosen Unterdrückung flackern seither aber auch im Norden immer wieder Proteste von Jugendlichen auf. Sie erreichten jedoch bisher nicht annähernd Ausmaß und Vehemenz der Aufstände im Süden, wo sie rasant um sich griffen und noch im Laufe des Februar alle größeren Städte im Distrikt Sulaimaniya sowie weite Gebiete im gesamten Süden des irakischen Kurdistan erfassten.
Erste Opferbilanz: 10 Tote, fast 1000 Verletzte
Ende April veröffentlichte ausgerechnet das Gesundheitsamt der Stadt Sulaimaniya eine erste Opferbilanz, die seither am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien von Lektor Azad Noree, einem Kurden aus dem Irak, auf dem letzten Stand gehalten wird. Laut diesen amtlichen Angaben wurden alleine bei Demonstrationen zwischen 17. Februar und 19. April 2011 insgesamt 10 Menschen erschossen, 5 davon in der Stadt Sulaimaniya und weitere 5 in der Umgebung. Unter den amtlich registrierten Toten sind vier Jugendliche von 11, 14, 15 und 17 Jahren, fünf zwischen 26 und 30 sowie ein 75-Jähriger. 958 Demonstranten wurden zum Teil schwer verletzt, die meisten - 754 - in der Stadt Sulaimaniya und 254 in der Umgebung, darunter 50 in Kalar, 86 in Raniya, 61 in Halabdscha und 7 in Chemchemal. In Sulaimaniya und Halabdscha wurden auch Panzer gegen Demonstranten eingesetzt. Eine unbekannte Anzahl junger Protestanten wurde gekidnappt und verschleppt. Ihr Schicksal ist unklar. Prominentes Opfer einer anhaltenden Verhaftungswelle ist Rebin Hardi, ein in Kurdistan renommierter kritischer Journalist und Menschenrechtsaktivist. Hardi wurde in Sulaimaniya von PUK-Bewaffneten verhaftet, eingesperrt, von einem Sicherheits-Gefängnis in ein anderes geschleppt, nach eigener Aussage schwer gefoltert, misshandelt und blau verprügelt wieder auf die Straße gesetzt. Ende Juni wurde in Sulaimaniya der Rechtsanwalt Karwan Karmal von bewaffneten Spezialeinheiten der PUK angeschossen. Karmal gilt als führender Kopf der Bürgerproteste und Mitorganisator der Demos von Sulaimaniya. Er wurde von mehreren Kugeln schwer getroffen und schwebte in Lebensgefahr. Täter unbekannt.
Barzani-Kritiker brutal ermordet
Kurze Rückblende: Zuvor waren aus dem von der Barzani-KDP kontrollierten Norden mehrfach schwere Menschenrechtsverletzungen berichtet worden. Schock und Empörung löste international vor allem die brutale Ermordung im Mai 2010 des 23-jährigen Studenten und Journalisten Serdescht Oman aus. Oman studierte Englisch an der Salahaddin Universität von Arbil (Hawler) und schrieb für mehrere unabhängige Zeitungen. In seinen Beiträgen übte er immer wieder heftige Kritik an der autoritären Herrschaft, Korruption und Freunderlwirtschaft im irakischen Kurdistan. Zuletzt hatte er auch den Regional-Präsidenten Masoud Barzani in einer Satire mit dem Titel „Ich liebe Barzanis Tochter“ persönlich angegriffen. Tenor: durch Einheirat in die Barzani-Familie würde er nicht nur selbst zu den Wohlhabenden der kurdischen Gesellschaft aufsteigen. Er könnte auch seine ganze Verwandtschaft mit guten Posten versorgen und ihnen dringend benötigte medizinischen Behandlung verschaffen. Daraufhin erhielt er monatelang anonyme Drohungen am Telefon, sich aus der Politik herauszuhalten. Am 4. Mai 2010 wurde er schließlich vor dem Eingang zur Salahaddin Universität in Arbil von einer Gruppe bewaffneter Männer am hellichten Tag gekidnappt, in einen weißen Minibus gezerrt und verschleppt. Ein halbes Dutzend bewaffneter Sicherheitskräfte vor der Uni schaute tatenlos zu. Zwei Tage später wurde seine Leiche in der Nähe von Mosul außerhalb der autonomen Region Kurdistan gefunden. Laut lokaler Polizei an Händen und Füßen gefesselt, schwer gefoltert und mit einem Schuss in den Mund hingerichtet, wie das Kurdische Institut in Paris dokumentiert.
30 Jahre für Beleidigung der Barzanis
Fünf Jahre davor hatte ein Kurde aus Arbil (Hawler) mit inzwischen österreichischer Staatsbürgerschaft, Kamal Said Qadir, Kritik an den Barzanis überlebt. Qadir, 1958 in Arbil geboren, ist ein kurdischer Menschenrechts-Aktivist, der 1978 nach Wien emigrierte, an der Uni Wien Jus studierte und von 1998-2000 auch an den Universitäten von Arbil und Sulaimaniya unterrichtete. In einem offenen Brief hatte er auf einer kurdischen Website Masoud Barzani und seine Söhne für eine Reihe von Menschenrechtsverletzungen verantwortlich gemacht und auch behauptet, ein Mitglied der herrschenden Barzani-Familie sei homosexuell. Daraufhin wurde Qadir im Oktober 2005 nach Rückkehr in Arbil (Hawler) von KDP-Sicherheitskräften verhaftet, eingesperrt und im Jänner 2006 wegen "Entehrung der kurdischen Führung und ihres Kampfes" zunächst zu 30 Jahren Haft verurteilt. Nach heftigen internationalen Protesten wurde das Verfahren neu aufgerollt und Qadir im März 2006 zu 18 Monaten Zuchthaus verurteilt. Im April 2006 kam er schließlich frei. Rund zwei Jahre später wurde Qadir im Februar 2008 von Bodyguards des Geheimpolizeichefs der Barzani, Masrour (42), in dessen Anwesenheit auf der Kärntnerstraße in der Wiener Innenstadt krankenhausreif geprügelt und schwer verletzt. Qadir fürchtet seither um sein Leben.
Human Rights Watch: “nicht viel besser als Saddam Hussein Regime”
Zurück zu den aktuellen, blutigen Demonstrationen: Die Brutalität, mit der schwer bewaffnete, teils schwarz vermummte kurdische Sicherheitskräfte gegen die eigene, demonstrierende Bevölkerung, meist Studenten, Professoren und Anwälte vorgeht, hat international überrascht und Empörung ausgelöst. Die Menschenrechts-Organisation Human Rights Watch (HRW) warf der „Kurdistan Regional Regierung (KRG)“ im Mai 2011 vor, nicht viel besser als die frühere von Saddam Hussein zu sein. “Die Kurdistan Regional Regierung versprach eine neue Ära von Freiheit für irakische Kurden, scheint aber nicht mehr respektvoll gegenüber kurdischen Rechten für Redefreiheit zu sein als die Regierung, die ihr vorausging”, kritisierte Sarah Leah Whitson, Nahost-Direktorin von Human Rights Watch. Ähnlich kritisch äußert sich auch Amnesty International in jüngsten Berichten über das irakische Kurdistan. Im Namen der UNO zeigte sich der stellvertretende General-Sekretär des Hoch-Kommissariats für Menschenrechte OHCHR in Genf, Ivan Šimonović, bei einem Treffen im Juni 2011 mit Vertretern der Kurdistan Regional Regierung in Arbil “besorgt über den Schutz von Frauen und die Meinungs-Freiheit“.
Zahlreiche Geheim- und Sicherheits-Dienste
Zum Symbol der Sorge wurden vor allem schwarz vermummte Schläger- und Killer-Trupps, wie sie in zahlreichen Augenzeugen-Videos etwa auf YouTube im Gewalt-Einsatz gegen Demonstranten auch im irakischen Kurdistan zu sehen sind. Mit ihrer blutigen Handschrift zeigen sie frappante Ähnlichkeit mit jenen in Ländern des „arabischen Frühlings“ von Libyen, Tunesien, Ägypten, Syrien, Jemen und Bahrein. In Aufbau und Organisation wurden diese Sicherheits-Dienste an Strukturen des ehemaligen Machtapparates von Saddam Hussein modelliert. Ausgebildet und trainiert wurden sie bis zuletzt von Spezialeinheiten der amerikanischen Besatzungs-Streitkräfte im Irak. Die Zahl dieser Schlägertrupps, die auch in Kurdistan ihr wahres Gesicht zu verbergen suchen, ist nicht bekannt. Es existieren lediglich Schätzungen. Diese gehen davon aus, dass beide dominierenden Clan-Gruppen, Barzani-KDP und Talabani-PUK, jeweils etwa 3.000 davon rekrutieren. Die KDP vermutlich etwas mehr als die PUK. Nach Angaben kurdischer Menschenrechts-Organisationen stehen diese Spezial-Clan-Eingreiftruppen de facto außerhalb rechtsstaatlicher Strukturen, sind weder angreif- noch anklagbar, rechtlich nicht zur Verantwortung zu ziehen und letztlich offensichtlich nur dem innersten Machtzirkel der beiden Führungs-Clans weisungsgebunden. Darüber hinaus verfügen auch die Kader der KDP und der PUK über eigene Geheim- und Sicherheitsdienste inklusive gesonderter Gefängniszellen.
Machtproporz auch bei Armee und Geheimdiensten
Die Struktur der kurdischen Sicherheitskräfte ist sehr komplex und zersplittert. Armee (kurdische Soldaten heißen „Peschmerga“: „die dem Tod ins Auge sehen“) und Polizei tragen zwar eigene, jeweils einheitliche Uniformen und erwecken damit nach außen hin den Eindruck zentral geführter gemeinsamer kurdischer Sicherheitskräfte. De facto sind aber auch sie auf die beiden führenden Clans aufgeteilt und stehen etwa je zur Hälfte unmittelbar unter deren Kontrolle. Beide Seiten achten auch peinlich darauf, dass sich an diesem gespalteten, militärischen Kräfte-Gleichgewicht nichts Wesentliches ändert. Auf diese Weise haben KDP und PUK nicht nur eigene Milizen und Polizei-Einheiten unter ihrem Kommando, sondern verfügen auch noch zusätzlich über verschiedene Geheimdienste, Geheimpolizei, Anti-Terror-Truppen sowie weitere Spezial-Kommandos. In aller Regel unterhalten alle diese Sicherheits-Einheiten auch eigene Büros, Stützpunkte und Gefängnisse. Chef des Geheimdienstes der KDP ist einer der fünf Söhne von Masoud Barzani, des Präsidenten der autonomen Region Kurdistan, Masrour Barzani. Sicherheits-Trupps der PUK („Gegen-Spionage“) befehligt der älteste Sohn des irakischen Staatspräsidenten Jalal Talabani, Bafel Talabani. Über Anzahl und Stärke all dieser Sicherheits-Verbände existieren keine überprüfbaren Angaben. Die meisten Schätzungen gehen von einer derzeitigen Gesamtstärke der kurdischen Regional-Armee („Peschmerga“ Soldaten) im Nord-Irak von rund 100.000 Mann aus. Deren Loyalität wird etwa je zur Hälfte der KDP und PUK zugerechnet. Darüber hinaus verfügt ein gutes Dutzend von Spitzen-Politikern der vorderen Reihen hinter den Clan-Chefs Masoud Barzani und Jalal Talabani über eigene Milizen, Body-Guards und Sicherheitskräfte, die diesen persönlich ergeben sind. Auch der Vorsitzende der neuen Oppositionspartei „Gorran“ (Wandel), Nawshirwan Mustafa, hat eigene, bewaffnete Leibwächter unbekannter Stärke.
„Gorran“ (Wandel): Erste demokratisch gewählte Opposition
Nawshirwan Mustafa (*1944) ist ein Kurde aus Sulaimaniya, der zuerst in Bagdad und dann 1976 an der Universität Wien Politologie studiert und am Institut für Politologie Demokratie gelernt hat. Mustafa hatte bereits 1975 begonnen, zusammen mit dem heutigen Präsidenten des Irak, Jalal Talabani, die Patriotische Union Kurdistans zu begründen, baute dann nach Rückkehr aus Wien deren Kader federführend auf, erwarb sich einen Ruf eines erfolgreichen Armee- („Peschmerga“) Führers und Partei-Strategen, war bis 2006 einer der einflussreichsten Stellvertreter Talabanis und repräsentierte jahrzehntelang das Establishment der PUK. Als im Februar 2001 die ersten Proteste in Sulaimaniya aufflackerten und niedergeschlagen wurden, distanzierte sich Nawshirwan Mustafa damals noch von den Demonstranten und deren Zielen. Nach eigener Darstellung versuchte er zunächst, die PUK von innen zu reformieren, Demokratie innerhalb der Partei zu fördern, die allgegenwärtige Korruption zurückzudrängen und die Jugend zur politischen Mitarbeit zu motivieren. Mustafa scheiterte daran jedoch letztlich am Widerstand von Jalal Talabani persönlich, wie er sagte. Daraufhin trat er nach mehr als 30 Jahren im Dezember 2006 aus der PUK aus und gründete eine eigene Reformbewegung, die sich „Gorran“ (Wandel) nennt. „Gorran“ (Wandel) trat erstmals bei den kurdischen Regionalwahlen im Juli 2009 als Partei an, konnte auf Anhieb 25 der insgesamt 111 Sitzen im Parlament von Arbil (Hawler) erringen und selbst die PUK in Sulaimaniya, das bis dahin deren Hochburg war, an Mandaten schlagen.
Forderungen nach Macht- und Kurswechsel
Seither erreichte der Machtkampf im irakischen Kurdistan neue Dimensionen. Es werden nicht mehr nur noch interne Reformen und bessere Lebensbedingungen gefordert, sondern ein radikaler Macht- und Kurswechsel. Durch Gründung der „Gorran“ (Wandel) hat sich zunächst die Talabani-PUK und mit ihr der Süden des irakischen Kurdistans machtpolitisch gespalten und de facto zu einer internen Dreiteilung der autonomen Region geführt. Gleichzeitig ufern langjährige Forderungen vor allem einer enttäuschten Jugend und Intelligenz, Zustände durch interne Reformen des Regimes zu ändern, zunehmend zu einer Volksbewegung für einen radikalen Macht- und Kurswechsel aus, bei der immer offener auch die Rücktritte der beiden Clan-Chefs Masoud Barzani und Jalal Talabani verlangt werden. All dies führte aber bisher zu keiner Änderung des 50:50 Machtmonopols von KDP und PUK, sondern verhärtete dieses eher noch. Beide Parteien traten bei jüngsten Wahlen auch nicht mehr einzeln, sondern mit gemeinsamen Listen an. An den Mehrheits-Verhältnissen in Parlament und Regierung hat sich insofern nichts geändert, als es diese nie gegeben hat, auch nicht seit den ersten freien Wahlen 1992. Die 25 Abgeordneten der „Gorran“ (Wandel) im Regional-Parlament haben zwar das Machtmonopol von KDP und PUK, die weiter mit einer gemeinsamen Liste vertreten sind, geschwächt und vor allem der PUK im Süden politische Verluste zugefügt. „Gorran“ (Wandel) wurde bisher aber nicht an der Macht beteiligt und ist auch selbst noch nicht stark genug an Mandaten, dass sie einen Mehrheits-Anspruch erheben könnte. Mögliche Koalitionen, vor allem zwischen „Gorran“ (Wandel) und PUK, bei denen vorher der bisherige Machtproporz zwischen KDP und PUK fallen müsste, sind nicht in Sicht. Derzeit gibt es zwei Trends: die „Gorran“ (Wandel) Opposition bekommt im Süden weiter Zulauf, obwohl bewaffnete Kräfte der PUK zunehmende Proteste immer wieder blutig niederzuschlagen versuchen. Im Norden hält die Barzani-KDP Versuche von „Gorran“ (Wandel) und anderen Oppositions-Gruppen, auch dort Fuß zu fassen, mit einer Politik der eisernen Hand nieder. Wie lange noch, ist unklar. Mit starker Tendenz zur Polarisierung und Eskalation.
Kein freier und unabhängiger Parlamentarismus
Aus der Sicht von Politologen bestätigt diese Entwicklung neuerlich, dass alle Anläufe, ein auf archaische Stammes-Traditionen basierendes Gesellschaftssystem in Kurdistan zu demokratisieren, bisher zwar mehrfach zu freien Wahlen geführt haben, dass die dann aber im Wesentlichen immer nur einen bereits vordem ausgehandelten, bestehenden Machtproporz von zwei führenden, eingesessenen Familien-Clans konfirmiert haben, die sich dann Macht und Einfluss immer untereinander aufgeteilt haben. Gemeinsame Machtstrukturen wie ein Parlament und eine Regierung der autonomen Region Kurdistan konnten sich zwar seit den ersten freien Wahlen 1992 halten, spalteten sich aber relativ rasch nach zaghaften, gemeinsamen Anläufen bis 2006 geographisch in zwei rivalisierende Zentren in Arbil und Sulaimaniya auf, entwickelten seither trotz engagierter Emanzipations-Versuche einzelner Abgeordneter auch nur relativ schwache, machtpolitische Strukturen und erweisen sich bei Abstimmungen in aller Regel den beiden Familien-Clan-Führern Masoud Barzani und Jalal Talabani weisungsloyal. Auch im Vorsitz von Parlament und Regierung kam es an der Spitze bisher immer nur zu einer machtpolitisch abgezirkelten Rotation von KDP- und PUK-Mandataren innerhalb von deren Machtproporz.
Wirtschaftsboom – Tausende Millionäre - Jugendmassenarbeitslosigkeit
Die Folge sind Verwerfungen in Gesellschaft und Wirtschaft, gegen die zunehmend die Jugend protestiert, weil sie sich als großer Verlierer ohne Zukunftschancen sieht, und der nun „Gorran“ (Wandel) politisch eine oppositionelle Protest-Stimme verleiht. Warum in erster Linie die Jugend? Weil sie die Mehrheit der Bevölkerung repräsentiert: laut Volkszählung vom Mai 2010 sind mehr als 50% der irakischen Kurden unter 20 Jahre. 36% sind bis 14, nur 4% über 63. Das Durchschnittsalter beträgt junge 20. Diese Jugend ist mit den ersten freien Wahlen 1992 aufgewachsen, kann sich bestenfalls noch als Kinder an den Bürgerkrieg 1994-98 erinnern, ist seither in einem Bau- und Investitionsboom mit Wachstumsraten bis zu mehr als 6% jährlich groß geworden, sieht sich aber mit Massen-Arbeitslosigkeit konfrontiert. So hat etwa Maria Fantappievom Carnegie Middle East Center in Beirut im Mai 2011 in der Los Angeles Times geschrieben, dass derzeit zwischen 35% und 45% der kurdischen Jugendlichen entweder arbeitslos sind oder nur Gelegenheitsjobs haben, von denen sie nicht leben können. Davor ließ der irakische Staatspräsident Jalal Talabani im September 2006 in einem offenen Brief „an die Amerikaner“ mit der Bemerkung aufhorchen, es gebe alleine (bei ihm zuhause) in Sulaimaniya „mehr als 2.000 Millionäre“, davor wären es nur 12 gewesen. Ein Polizist habe unter Saddam Hussein „zwei bis drei $ im Monat“ verdient, nun (2006) „mindestens 200 $ pro Monat“, das seien „hundert Mal oder noch mehr“. Dieser Vergleich - 2.000 Millionäre alleine in Sulaimaniya und gute 200 $ für Polizisten - trifft in der Tat den Nagel auf den Kopf. Wenn man die 2.000 Millionäre von Sulaimaniya 2006 auf die Regional-Hauptstadt Arbil und ganz Kurdistan hochrechnet, kommt man auf eine Anzahl von Millionären, die aktuell etwa jener von Kärnten oder Tirol in Österreich entspricht (mehr als 4.000), wo Polizeibeamte aber auch deutlich mehr als 200 Euro im Monat verdienen. Insgesamt hat die Regierung der autonomen Region Kurdistan eine vergleichsweise riesige Beamten-Bürokratie aufgebläht, die den Aufbau einer produzierenden Wirtschaft deutlich bremst. Mehr als eine Million der erwerbsfähigen Bevölkerung steht auf der Gehaltsliste der Regierung. Deren Gehälter machen mehr als 75% aller im gesamten öffentlichen Dienst aus, zu dem auch Armee und Sicherheitsdienste gehören. Dabei sehen sich neben einer enttäuschten Jugend, die nach wie vor bei KDP- oder PUK-Clans um Jobs anklopfen muss, auch „Peschmerga“-Soldaten, die oft jahrzehntelang in den Bergen für Freiheit gekämpft hatten, mit den 2006 kolportierten rund 200 $ im Monat nicht fair entlohnt und weit weg vom neuen Wohlstand, den bisher nur ein kleiner Prozentsatz der Bevölkerung angehäuft hat. Böses Blut macht auch, dass zu den gut Situierten in Kurdistan wieder ehemalige Kollaborateure des gestürzten Saddam Hussein Regimes gehören. Diese kurdischen Familien und Stämme sind nach einer eher kurzen Zeit vorübergehender Ächtung in den meisten Fällen wieder etabliert, im neuen Establishment integriert und vielfach erneut gut im Geschäft. Abzulesen ist der Wohlstand einer neuen, kleinen Schicht von Neureichen jedenfalls an weithin sichtbaren Villen-Vierteln, die in beiden kurdischen Metropolen wie Schwammerl aus dem Boden schießen und auch einen Komfort wie in Europa aufweisen. Dagegen haben etwa Kommunaldienste wie Strom, Wasser, Kanalisation, Müllabfuhr oder auch die Gesundheitsversorgung Substandards selbst im Vergleich mit ärmsten Ländern Europas. Strom gibt es beispielsweise in der autonomen Region Kurdistan auch für Millionäre nur stundenweise, nicht aber rund um die Uhr. Und private Stromaggregate können sich die meisten Kurden nicht leisten.
Kurdistan-Gas Hoffnung für Österreich und Europa
Stichwort Europa: am anhaltenden Bau- und Investitionsboom in der autonomen Region Kurdistan möchte auch Europa zunehmend partizipieren. Wegen der nach wie vor unsicheren Lage sind bisher allerdings größere Investitionen im irakischen Kurdistan nicht zustande gekommen. Nun setzt aber die EU bei der Energiesicherung der Zukunft vor allem auf die Versorgung mit Kurdistan-Gas. Sicherstellen soll diese die geplante „Nabucco“-Gasleitung unter Federführung des österreichischen OMV Konzerns in Wien. Die „Nabucco“-Pipeline soll Erdgas aus Zentral/Eurasien und Nahost über die Türkei und den Balkan nach Österreich bringen und Westeuropa von russischem Gas unabhängiger machen. Erdgas aus dem irakischen Kurdistan soll sicherstellen helfen, das „Nabucco“-Projekt rentabel zu machen. Deren Vertreter werden in Medien mit Bemerkungen zitiert, „Nabucco“-Gas könnte zu 30%, unter Umständen sogar bis 50% aus dem irakischen Kurdistan kommen. „Nabucco“-Investitionen könnten in Kurdistan rund eine halbe Milliarde Euro ausmachen. Jüngster Stand: die OMV hat zusammen mit der ungarischen MOL im Mai 2009 Anteile an den Gasfeldern von Khor Mor und Chemchemal erworben. Aus diesen Feldern sollen ab 2014-2015 täglich 3 Milliarden Kubikfuß Erdgas über Wien nach Westeuropa transportiert werden.
Gefahr eines neuen Bürgerkrieges – „Nabucco“ bisher nicht gesichert
Für irakische Verhältnisse ist die autonome Region Kurdistan im Norden zwar auch in einem gesamten Nahost-Vergleich relativ ruhig und wirtschaftlich prosperierend. Unsicherheiten waren bisher in erster Linie geprägt vom Dauerstreit um das Öl- und Gas-Zentrum Kirkuk, um die Verteilung von Erdöleinnahmen im Irak sowie von brutalen Morden und Terroranschlägen, denen bis 2010 vor allem Christen in Randgebieten wie Kirkuk und vor allem Mosul zum Opfer gefallen sind. Seit Februar 2011 eskalieren nun aber auch Anti-Regime-Proteste in Kurdistan und halten ungebrochen an. Sie verschärfen Gefahren eines neuen Bürgerkrieges. Erstens deswegen, weil bisher alle großen Entscheidungsfragen in Kurdistan seit dem Neuanfang 1975 in interne Bürgerkriege gemündet sind: bereits 1978 nach der Abspaltung der PUK-Linken, dem der „Peschmerga“-Führer Ali Askeri zum Opfer fiel. 1994-1998 der bislang letzte Bürgerkrieg, vordergründig ausgelöst durch Dauerstreitereien über Zoll-, Schmuggel- und Öl-Einnahmen, auf die Spitze getrieben durch chronische Unfähigkeit beider Führungs-Clans KDP und PUK, sich demokratischen Mehrheitsentscheidungen zu beugen. Die Folgen: eine gemeinsame Regierung kam nach gescheiterten Anfängen erst 2006, vierzehn Jahre nach den ersten freien Wahlen 1992 zustande. KDP und PUK rückten nach politischen Verlusten noch weiter zusammen und zementierten ihr Machtmonopol durch Bildung von Einheitslisten. Selbst die beiden Clan-Führer Masoud Barzani und Jalal Talabani traten bisher nie bei gültigen, abgeschlossenen Wahlen gegeneinander an. Sie kandidierten lediglich einmal gleichzeitig mit den ersten freien Wahlen am 19. Mai 1992 in einem ersten Urnengang um die „Führung der Befreiungsbewegung Kurdistans“, bei dem aber von vornherein klar war, dass keiner auf Anhieb die erforderliche Mehrheit von 50 Prozent plus eine Stimme erreichen würde. Das Ergebnis: der erste Wahlgang scheiterte. Masoud Barzani lag knapp vor Jalal Talabani. Ein zweiter Wahlgang kam nie mehr zustande. Die Lösung war kurdisch: Jalal Talabani ging nach Bagdad, wurde im April 2005 erster kurdischer Präsident des Irak (Abd al-Karim Qasim, 1914-1963, war Halb-Kurde) und wurde 2010 wiedergewählt. Masoud Barzani wurde im Juni 2005 vom Parlament in Arbil (Hawler) zum ersten Präsidenten der autonomen Region Kurdistan bestellt und im Juli 2009 im Amt bestätigt. Zweitens besteht die Gefahr eines neuen Bürgerkrieges auch deswegen, weil sich an der Machtspitze die handelnden Personen nicht geändert haben. Dies trifft auch auf Nawshirwan Mustafa, den „Gorran“-Chef und neuen Oppositionsführer zu. Drittens: Koalitionen, etwa zwischen „Gorran“ und PUK, zeichnen sich nicht ab. Mehrheits-Entscheidungen gelten im irakischen Kurdistan noch immer weithin als Gesichts- und Machtverlust, nicht aber als Demokratie-Gewinn. Viertens: die geplante Großinvestition um die EU/OMV-„Nabucco“ Gas-Pipeline erscheint derzeit auf dem Höhepunkt dieses anhaltenden, teils blutig geführten Machtkampfes als nicht endgültig gesichert. Im Augenblick ist auch dabei die Lage gespalten, Tendenz weiter auf Konfrontation. Das Projekt- und Vertrags-Zentrum der „Nabucco“ ist vor Ort in der Regional-Hauptstadt Arbil, die von der Barzani-KDP kontrolliert wird. Das große Gasfeld, das die OMV derzeit in der autonomen Region Kurdistan erschließt, liegt aber im Süden der Region, der von der Talabani-PUK dominiert wird. Die OMV hält dabei 10% an der Pearl Petroleum Ltd. Die lokalen Zentren dieses Gasfeldes, Khor Mor und Chemchemal, zählen zu den blutigen Aufstands-Gebieten im Distrikt Sulaimaniya. In Chemchemal und Khor Mor hat es bis zuletzt bei Massen-Protesten zahlreiche Opfer gegeben. Eine Änderung dieser spannungsgeladenen Protest-Stimmung ist nicht in Sicht. Der zunehmend sich verschlechternde gesundheitliche Zustand von Staatspräsident Jalal Talabani, 78, dürfte auch den Machtkampf um die Nachfolge in der PUK und in der Kontrolle des Südens der autonomen Region Kurdistan im Irak weiter deutlich verschärfen.
Last updated 11 August 2011