Verbesserte Lage 2012
Die Lage in Kurdistan (Irak) hat sich seit August 2011 und den heftigen Demonstrationen des Vorjahres bis derzeit Juli 2012 deutlich verbessert. Dies zeigte auch eine jüngste, mehrwöchige Reise des Autors nach Kurdistan (Irak) im März 2012. Im Vergleich zur Entwicklung 2011, die auch international heftig kritisiert wurde, sind seither tätliche Angriffe auf Journalisten, Autoren, Studenten und Professoren zurückgegangen. Ein neuerlicher, schwerwiegender Zwischenfall ereignete sich Ende März 2012, als Dr. Musawir Barzani, Historiker an der Universität von Sulaimaniya, bei einem Besuch in Erbil von unbekannten, maskierten Männern, die Barzan-Dialekt sprachen, entführt, an einen verlassenen Ort in der Nähe von Erbil verschleppt und dort schwer mißhandelt wurde. Dr. Barzani hatte wenig vorher dem TV-Sender NRT ein Interview gegeben und dabei auch Zeitgeschichte der Barzanis erklärt. Die maskierte Bande, die ihn entführte, warf ihm vor, in diesem Interview Mullah Mustafa Barzani (1903-1979) kritisiert und damit "entehrt" zu haben. Dr. Musawir Barzani, der selbst aus der Barzani-Familie stammt, bestritt dies heftig, beteuerte, "nichts als die historische Wahrheit gesagt" zu haben, wurde beschimpft und verprügelt und vor seiner Freilassung noch mit dem Tod bedroht, sollte er seine Darstellung wiederholen. In einem Interview mit dem Autor in Sulaimaniya wenige Stunden nach dem Attentat in Erbil, sagte Dr. Barzani, er rufe alle bisher in der Autonomen Kurdistan Region (Irak) misshandelten Professoren, Journalisten, Autoren und auch Studenten auf, sich zu melden, ebenfalls an die Öffentlichkeit zu gehen, sich zusammen zu schließen und Menschenrechts-Klage bei Gericht einzureichen. Sollte eine derartige Klage vor Gericht in Kurdistan (Irak) keinen Erfolg haben, würde er sich zusammen mit anderen Opfern, die ebenfalls wegen Kritik an Zuständen mißhandelt wurden, an den UNO-Menschenrechts-Gerichtshof um Hilfe wenden. Zur Entwicklung einer unabhängigen Justiz in Kurdistan (Irak) sagte Dr. Barzani, es gebe zwar generell keine unabhängige Justiz, aber mutige Richter, die sich bemühten, unabhängig Recht zu sprechen, aber selbst deren Urteile würden vielfach nicht umgesetzt und vollzogen. Dies gelte selbst für Urteile des Obersten Gerichtshofes der Autonomen Kurdistan Region. Die internationale Gemeinschaft rief der Historiker auf, kurdische Politiker auch im Ausland beim Wort zu nehmen, wenn sie von Demokratie sprächen, zu Hause aber Kritiker mit anonymen, vermummten Banden zum Schweigen zu bringen versuchten. An Kurden selbst appellierte Dr. Musawir Barzani, "mehr Mut zur Wahrheit zu zeigen". Über die Zukunft Kurdistans (Irak) äußerte er sich "unter diesen Umständen" skeptisch und pessimistisch.
Gespräche mit führenden Politikern
Betont optimistisch zeigten sich in weiteren Gesprächen dagegen Staatspräsident Jalal Talabani, PUK, der frühere Regional-Premier Dr. Barham Salih, PUK, sowie der "Außenminister" der Autonomen Kurdistan Region (Irak), Falah Mustafa Bakir, KDP. Präsident Talabani sprach von einer Revolution, die Kurdistan (Irak) auf den Weg zu Demokratie, Frieden und Freiheit gebracht habe. Der Fortschritt der vergangenen zehn Jahre sei enorm und klar erkennbar. Dr. Salih sagte, der "Traum" eines freien, demokratischen und florierenden Kurdistan sei "wahr geworden". Es gelte aber noch viele Herausforderungen zu meistern. Die Zukunft Kurdistans bezeichnete er als "bright". Auf die Frage, ob die Zeit der Kämpfe damit endgültig vorbei sei, erklärte Dr. Barham Salih: "I hope so, and for ever!"
Der regionale "Außenminister" Falah Mustafa Bakir verwies darauf, dass Kurdistan (Irak) seit 1992 einen langen, aber erfolgreichen Weg Richtung Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Wiederaufbau gegangen sei. Die Kurdistan Regional-Regierung bemühe sich nun, Demokratie zu festigen, das durch das gestürzte Saddam-Hussein-Regime weithin zerstörte Land wieder aufzubauen und Beziehungen zur internationalen Staatengemeinschaft zu verstärken, darunter im Besonderen auch mit der Europäischen Union. Die Kurden wollten nie mehr unter einer Diktatur leben und seien nun integraler Teil der neuen, föderalen Verfassungs-Ordnung des Irak. Über die Zukunft Kurdistans (Irak) äußerte sich auch Falah Mustafa Bakir sehr zuversichtlich.
Betont konsensbereit zeigte sich auch Oppositionsführer Noschirwan Mustafa, Gorran/Wandel. In einem ausführlichen Gespräch im Gorran-Hauptquartier in Sulaimaniya versicherte Mustafa, er sei für Konsens, Kompromiss, Mehrheits-Entscheidungen und kämpfe mit der neuen Oppositions-Bewegung für volle und echte Demokratie. Tätliche Übergriffe auf Kritiker unter Journalisten, Professoren oder Studenten verurteilte der Oppositionsführer entschieden, erklärte aber, dass in der Autonomen Kurdistan Region "relative Pressefreiheit" herrsche. Es gebe auch zahlreiche unabhängige Medien. Politisch forderte Noschirwan Mustafa ein Ende des bestehenden Einheits-Regimes von KDP und PUK im Ex-Sowjet-Stil, wie er es nannte, von einer allgegenwärtigen Korruption, dem zunehmenden Auseinanderdriften der kurdischen Gesellschaft in Arm-Reich, der machtpolitischen Proporz-Aufteilung der Region durch beide führenden Parteien, von Doppel-Verwaltungen in Erbil und Sulaimaniya, der Trennung von Partei-Sekretariaten und öffentlicher Verwaltung sowie der chronischen Praxis, verfügbare Jobs nach KDP/PUK-Parteiproporz zu vergeben. Auf die Frage, ob sich in Kurdistan (Irak) an Gegensätzen neuerlich Kämpfe oder ein Bürgerkrieg entzünden könnten, versicherte auch Noschirwan Mustafa, es gebe nun keine Gründe mehr für bewaffnete Auseinandersetzungen. Die Zeit bewaffneter Kämpfe sei endgültig vorbei. Die Zukunft müsse durch Kompromiss, Konsens und Mehrheits-Abstimmungen entschieden werden. "Majority rule" gebe es im irakischen Kurdistan aber weiterhin nicht. Über die künftige Entwicklung zeigte sich auch der Oppositionsführer zuversichtlich. Noschirwan Mustafa war 1976 Mitbegründer der Patriotischen Union Kurdistans, langjähriger Machtstratege der PUK, trennte sich aber 2009 von ihr mit der Begründung, sie sei nicht mehr reformfähig, und rief die Oppositionsbewegung Gorran/Wandel ins Leben, als deren "General-Koordinator" er seither fungiert. Noschirwan Mustafa hatte unter anderem in den 1970er Jahren an der Universität Wien bis knapp vor das Doktorat Politologie studiert und das österreichische Modell einer sozialen Demokratie, Sozial-Partnerschaft und freier, sozialer Marktwirtschaft kennen gelernt, das für ihn auch bei der politischen Gestaltung der Zukunft Kurdistans (Irak) Vorbild geblieben sei, wie er in unserem Gespräch bekräftigte.
Wirtschaft
Wirtschaftlich ist in der Autonomen Kurdistan Region Irak bei allen Verwerfungen, die weiterhin auch augenfällig bleiben, rapide Prozesse der Transformation und Veränderung erkennbar. Die Wirtschaft wächst auch ohne bedeutende, eigene Industrie, bei schwacher Landwirtschaft und erst langsam wieder stärker werdendem Tourismus kräftig, laut Ex-Premier Dr. Barham Salih 2012 um geschätzte 12%. Zum Vergleich: 2008 waren es noch magere 1,8%, 2009 schon verbesserte 4,3% und 2010 bereits 7%. Allerdings: die Kluft Arm-Reich nimmt ebenfalls zu wie der Aufstieg eher kleinerer Gruppen von Neureichen, deren Villen vor allem in Vororten der Metropolen Erbil und Sulaimaniya weithin Aufmerksamkeit erregen. Auf den Straßen Kurdistans (Irak) sind zwar kaum Bettler zu sehen, aber zahlreiche Gastarbeiter vor allem aus Asien, die Billig-Jobs von Hotel-Boys über Haushaltshilfen bis zu Straßenkehrern besorgen, die Kurden immer weniger machen wollen. Die eigenen Einnahmen der Autonomen Region aus regionalen Steuern und Zöllen bleiben weiter gering und betragen derzeit schätzungsweise rund 1% des lokalen Budgets. Die Autonome Kurdistan Region kann aber weiterhin mit fixen und ziemlich stabilen Einkommen aus den Öl/Gas-Exporten des Iraks rechnen. Davon bekommt die Kurdistan Region vom jährlichen Verkauf rund 17%, abhängig von den Öl/Gas-Preisen am Weltmarkt. 2011 exportierte der Irak Erdöl im Wert von rund 83 Mia. $, für heuer werden ca. 87 Mia. $ angenommen. Runde 17% Anteil davon hätte für die Kurdistan Region 2011 etwa Einkommen von rund 14 Mia. $ bedeutet, Wirtschafts-Experten in Erbil und Sulaimaniya bestätigten in Gesprächen Mitte März 2012 aber lediglich 11-12 Mia. $. Von diesem lokal konfirmierten, derzeitigen Regional-Budget in der Gößenordnung um die 11-12 Mia. $ bleiben der Kurdistan Regional-Regierung allerdings de facto nur etwa 30%. Fast zwei Drittel gehen nämlich für Fixkosten in Form von Zahlungen an Beamte, ehemalige Peschmerga-Kämpfer und deren Familien sowie für Arbeitslose auf, darunter auch etwa 30.000 Jungs-Akademiker, die keine Jobs finden. Die Arbeitslosenrate wird derzeit offiziell mit rund 18% angegeben. Unter Jugendlichen herrscht jedoch Massen-Arbeitslosigkeit von geschätzten 40 bis zum Teil mehr als 50%. Dies ist nicht zuletzt deshalb von Bedeutung, weil die deutliche Mehrheit der rund 5 Mio. Kurden der Autonomen Region Jugendliche sind, meist unter 18, die bisher weder einen Kireg miterlebt noch volle Demokratie erfahren haben, denen aber eine Schlüsselrolle bei der Gestaltung der Zukunft zukommt.
Von den ausländischen Handelspartnern dominiert die Türkei weiter Geschäfte mit Kurdistan. Die Türkei hat 2011 Waren im Wert von 11-12 Mia. $ in den Irak exportiert, davon geschätzte 70% in die Autonome Kurdistan Region. Die meisten Güter aus der Türkei sind Konsumartikel und Lebensmittel. Türkische Firmen sind weiter auch substantiell im Baugeschäft im irakischen Kurdistan tätig. Der Iran hat 2011 Güter im Wert von etwa 6-8 Mia. $ in den Irak geliefert, davon meist ebenfalls Konsmwaren und Lebensmittel in die Kurdistan Region. Letztere kamen bis zum Sommer 2012 selbst aus Bürgerkriegs-Syrien in das irakische Kurdistan.
Wirtschafts-Experten in Erbil und Sulaimanya betonen, um wirtschaftlich wieder auf eigene Beine zu kommen, brauche die Autonome Region Kurdistan eine effiziente Planung, massive Investitionen in eine weithin zerstörte Landwirtschaft, den Aufbau einer Industrie, vor allem von Klein- und Mittel-Betrieben als künftiges Rückgrat der Wirtschaft, sowie einen Ausbau des Tourismus mit Anbindung an internationale Netzwerke. Dies alles vermutlich nur mit erheblicher finanzieller Unterstützung und günstigen Wiederaufbau-Krediten internationaler Finanz-Institutionen und Partner. Die Autonome Kurdistan Region hofft dabei auch auf Zukunfts-Unterstützung durch die Europäische Union.
Last updated 22 July 2012